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Ohne Bewegung lässt die Muskulatur nach. Für die Gelenkgesundheit ist Bewegung ein wichtiger Faktor.

Sind die Schmerzen in den Gelenken erst einmal da, wird vieles im Alltag schwieriger. Was also tun, damit sie gar nicht erst auftreten? Ein Gespräch mit Präventionsmediziner Prof. (DHfPG) Dr. Thomas Wessinghage – der als ehemaliger Leistungssportler vor allem eines in den Fokus stellt: Bewegung, so oft wie es buchstäblich „geht“.


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Das A und O für ein gesundes Leben und gut funktionierende Gelenke ist eine gelenkschonende Sportart und Muskelaufbau durch Krafttraining, so der Bewegungsexperten und Facharzt für Orthopädie Thomas Wessinghage.

Zur Person

Prof. (DHfPG) Dr. med. Thomas Wessinghage (geb. 22.02.1952) ist Facharzt für Orthopädie und Physikalische und Rehabilitative Medizin, Prorektor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement in Saarbrücken. Als ehemaliger Leichtathlet gewann er bei den Europameisterschaften 1982 in Athen die Goldmedaille über 5.000 Meter.  Sport und Bewegung ist fester Bestandteil seines Alltags. Fünf Tage die Woche treibt er Sport.


Medicom: Herr Prof. Dr. Wessinghage, es heißt „Nichts geht ohne Bewegung!“ – was ist da dran?

Dr. Thomas Wessinghage: Eine ganze Menge! Wir leben in einer Zeit, in der sich die Bewegung scheinbar überflüssig gemacht hat. Wenn wir zurückblicken, war das mal ganz anders: Der Durchschnitts-Deutsche legte um die Jahrhundertwende noch etwa 20 Kilometer zurück – täglich. Heute sind es noch ein paar hundert Meter. Stattdessen wird viel gesessen. Das hat zur Folge, dass gewisse Funktionen verstauben. Organe funktionieren nicht mehr richtig, der Bewegungsapparat leidet und die Muskulatur bildet sich zurück. Das führt zu allen möglichen Problemen, die wir heute unter dem Oberbegriff der Zivilisationskrankheiten zusammenfassen.

Inwiefern hat sich die Lage durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschlechtert?

So wichtig uns die Corona-Pandemie auch scheinen mag, ist sie nur eine Fußnote der Natur. Wir haben uns jetzt mit einem Konglomerat aus Erregern auseinandersetzen müssen – aber neu ist das wahrlich nicht. Wir hatten im Laufe der Geschichte schon viel schlimmere Epidemien. Aber was nicht von der Hand zu weisen ist: Unser Lebensstil hat sich geändert. Die TU München konnte im Rahmen einer Studie nachweisen, dass der Durchschnittsdeutsche im Lockdown etwa fünfeinhalb Kilo zugenommen hat – und diejenigen, die vorher schon übergewichtig waren, haben sogar siebeneinhalb Kilo zugenommen.

Was bedeutet das für das Verhältnis, das wir eigentlich – gerade durch die Erfahrung der Pandemie – zum Thema Bewegung pflegen müssten?

Das ist eine Frage, die Sie eher einem Soziologen stellen müssen. Für mich als Mediziner im Präventionsbereich geht es eher darum, was wir tun können, um die überflüssigen Pfunde wieder loszuwerden, die Gelenke wieder beweglich zu machen.

Aber wie die Menschen darauf wirklich reagiert haben, wissen wir aktuell noch gar nicht. Es scheint, als gäbe es in bestimmten Bereichen deutliche Verbesserungen und Zulauf zu verzeichnen. Ich persönlich kann das jedoch nicht bestätigen. Und gerade bei Befragungsstudien habe ich persönlich immer ein Problem: So mancher kreuzt vielleicht an, dass er mehr Rad fährt, weil er vor zweieinhalb Wochen einmal mit dem Fahrrad zum Bäcker gefahren ist. Daraus wird dann geschlossen, die Menschen würden sich mehr bewegen.

Auch Ernährungsstudien sind heute eigentlich kaum noch verwertbar, da ja bekannt ist, dass man mehr Obst und Gemüse essen sollte – und dementsprechend antwortet. Auch wenn die Realität anders aussieht. Kurzum: Ich bin skeptisch, ob die Pandemie wirklich einen großen Einfluss auf unser Bewegungsverhalten hatte oder hat.

Sie sind ehemaliger Profisportler, Leichtathlet, Europameister und haben eine beeindruckende Laufkarriere vorzuweisen. Was bedeutet es für Sie persönlich, „in Bewegung“ zu sein und sein zu können?

Bewegung gehört zu meinem Leben, seit ich mehr oder weniger zufällig vor 56 Jahren damit begonnen habe. Meine leistungssportliche Karriere währte etwa 20 Jahre und hat mir viel Freude gemacht. Als ich mit 35 mit dem Wettkampfsport aufgehört habe, habe ich das Laufen nicht aufgegeben. Weniger als dreimal pro Woche habe ich mich eigentlich nie bewegt – seit 22 Jahren sind es eher fünfmal pro Woche. Das heißt, die Corona-Pandemie hatte auf mich und mein Bewegungsverhalten jedenfalls keinen Einfluss.

Ein Gelenk ist dann in Ordnung, wenn wir es nicht spüren.

Wann gilt ein Gelenk, medizinisch betrachtet, noch als fit?

Ein Gelenk ist dann in Ordnung, wenn wir es nicht spüren. Im Studium habe ich gelernt, dass jeder Mensch in seinem vierten Lebensjahrzehnt mindestens ein arthrotisches Gelenk im Körper hat. Das bedeutet aber nicht, dass dieses Gelenk zwangsläufig Probleme bereitet. Die Arthrose ist in erster Linie ein völlig normaler Prozess, bei dem das Gelenk nach und nach erkennbare Alterserscheinungen zeigt. Das muss nicht mit Schmerzen einhergehen. Es kann aber bedeuten, dass die Belastbarkeit des Gelenkes eingeschränkt ist. Was wir heute feststellen, ist: Viele Gelenke geben sehr frühzeitig ihren Geist auf. Wir haben pro Jahr in Deutschland über 400.000 Operationen, in denen Gelenke durch künstliche ersetzt werden. Das ist viel mehr, als es sein müsste.

Kommen wir zum Thema Prävention: Wie können wir die Entstehung von Gelenkbeschwerden verhindern?

Bewegung ist dabei ein unverzichtbarer Bestandteil des Präventionsverhaltens. Im Körper läuft vieles nach dem Prinzip „Use it – or lose it!“. Wenn wir die Gelenke nicht entsprechend ihrer Bestimmung einsetzen, also auch ausreichend gehen und uns bewegen, müssen wir mit Beeinträchtigungen rechnen. Entscheidend ist aber auch, diese Bewegung überhaupt möglich zu machen. Dazu gilt es, unsere Muskulatur zu stärken. Die Gelenke sind passive Strukturen, die lediglich von der Muskulatur in Beugung, Streckung oder Rotation versetzt werden. Eine gute Muskulatur ist zudem ein Schutz für die Gelenke. Sie umgibt die Extremitätengelenke wie eine Manschette. Anders ausgedrückt: Wenn die Muskulatur in Form ist, sind es auch die Gelenke. Wenn ich die Muskulatur aber nicht benutze, wird sie erstens schwächer, zweitens wird das Gelenk unter mangelnder Bewegung leiden. Dann kommt es unweigerlich in den Gelenken zu Problemen – vielleicht sogar früher als in anderen Funktionsbereichen.

„Use it – or lose it!“. Wenn wir die Gelenke nicht entsprechend ihrer Bestimmung einsetzen, also auch ausreichend gehen und uns bewegen, müssen wir mit Beeinträchtigungen rechnen.

Welche Rolle spielt außerdem das Körpergewicht?

Für „fitte Gelenke“ kommt es ebenso darauf an, das Körpergewicht in Schuss zu halten. Ein erhöhtes Körpergewicht stellt eine Mehrbelastung des Gelenkes dar. Wenn wir uns vorstellen, dass wir bei einem zügigen Gehen unser Körpergewicht verdrei- bis -fünffachen, lässt sich erahnen, dass bereits wenige Kilo mehr Auswirkungen auf die Gelenke im Fuß, im Knie und in der Hüfte haben können.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Wenn wir unseren Körper in einem guten Funktionszustand halten, sind auch die Gelenke in einem guten Zustand. Ausnahme: Wir tun etwas, das sehr häufig, das sehr häufig mit kleinen, mittleren oder größeren Verletzungen einhergeht – etwa beim Sport. Verletzungen haben die Gelenke nicht gern. Hier sprechen wir von Mikrotraumata, die problematisch werden, sobald sie sich summieren.

Ich gebe gerne folgendes Beispiel: Nehmen wir ein Fußballspiel unter alten Herren. Zweimal trifft der Spieler nicht den Ball, sondern das Bein des Gegners, zweimal tritt er zu stark auf, zweimal stolpert er, zweimal rutscht er aus, zweimal wird er gefoult, zweimal foult er selbst – und so kommen einige Mikrotraumata zusammen, die sich in das Gedächtnis der Gelenke einbrennen. Die machen sich auch irgendwann bemerkbar.

Ist Krafttraining vor diesem Hintergrund betrachtet auch jenseits der 40, 50, 60 oder sogar 70 besonders empfehlenswert?

Ja! Wir wissen aus Untersuchungen, dass der Mensch in den ersten zwei bis drei Lebensjahrzehnten vorrangig Kraft aufbaut. Etwa um das 25. bis 30. Lebensjahr herum ist das Maximum der Kraft erreicht, es folgt ein Plateau – und spätestens in der vierten Lebensdekade schwindet unsere Kraft. Gehen wir nun von der gelenkstabilisierenden Manschettenfunktion der Muskulatur aus, heißt dass, dass die achsengerechte Belastung umso weniger gewährleistet ist.

Und hier kommt das Krafttraining ins Spiel: Es lässt sich in jedem Alter sinnvoll einsetzen. Zunächst zum Aufbau in jungen Jahren, zur Behandlung von Rückenproblemen im Erwachsenenalter und am Ende des Lebens ist die Verfügbarkeit von Kraft im Grunde so wichtig wie nie zuvor. Kraft versetzt uns in die Möglichkeit, am Leben teilzuhaben. Und sie versetzt unsere Gelenke in den von uns gewünschten Funktionszustand. Ich habe das im Laufe der Zeit gegenüber meinen Patienten gerne wie folgt formuliert: Wenn Sie jetzt im Sessel sitzen, ist vielleicht alles gut. Aber wenn Ihnen die Kraft fehlt, sich aus dem Sessel zu erheben und das Leben zu genießen, dann müssten Sie warten, bis das Leben bei Ihnen vorbeikommt – und das kommt es so schnell wahrscheinlich nicht.

Gibt es einen Unterschied beim Krafttraining zwischen Frauen und Männern?

Ja, es gibt den prinzipiellen Unterschied: Männer haben bei etwa gleichem Körpergewicht 15 Prozent mehr Muskelkraft als Frauen. Gegebenenfalls kann bei Frauen Krafttraining deswegen umso notwendiger sein. Beispiel: Ein aus biomechanischer Sicht besonders heikles Gelenk ist das Knie, weil sie mit sehr langen Hebeln ausgestattet sind. Darauf muss dann beim Gehen jeweils einseitig unser Körpergewicht stabilisiert werden.

Bei den Damen sieht man aus anatomischen Gründen eher die Tendenz zum X-Bein, bei Männern eher zum O-Bein. Stellen wir uns vor, eine betreffende Person wird älter, dann wird es schwieriger, die Beinachse zu halten und so sehen wir eine deutliche Abweichung. Die geht einher mit der Tendenz zum Muskelabbau. Insofern gilt: Bemerken Frauen eine Tendenz zum X-Bein, dann wäre es – solange noch keine Schmerzen bestehen – der richtige Zeitpunkt, mit dem Krafttraining anzufangen und dafür zu sorgen, dass es nicht fortschreitet. Je stärker die Abweichung aus der geraden Achse ist, desto schwieriger wird es sonst nämlich, das Ganze zum Stehen zu bringen.

Gibt es auch gelenkfreundliche Ausdauersportarten?

Das Ausdauertraining ist primär ein Organ-Training. Wir brauchen eine gute Herz-Kreislauf-Funktion sowie einen guten Stoffwechsel – und in diese Richtung wirkt das Ausdauertraining vor allem auch. Bei etwa 500.000 Herzinfarkten und Schlaganfällen in Deutschland pro Jahr; mehr als 8 Millionen Diabetikern in Deutschland; bei rund zwei Drittel an übergewichtiger Bevölkerung ist Ausdauertraining ein gesunderhaltender Faktor erster Güte.

Aber: Das Ausdauertraining erfordert auch ein Basis-Kraftniveau. Ob Wandern, Gehen, Laufen, Walking, Joggen … wir brauchen Kraft, um die Gelenke zu stabilisieren und überhaupt etwas zu betreiben, das man als Ausdauertraining bezeichnen kann. Das Positive am Ausdauertraining zeigt sich mit Blick auf die Nährung der Gelenke: Ausdauertraining sorgt für eine bessere Versorgung des gesamten Organismus – auch der Gelenken.

Das Be- und Entlasten im Gehen der Gelenke ist somit ebenfalls eine Gesunderhaltungsmaßnahme für den Knorpel. Denn der hat keine eigene Versorgung und wird nur durch Kompression und Entlastung ernährt. Nur dadurch kann ich auch von einer guten Lebensdauer ausgehen. Fazit: Ausdauertraining und Krafttraining ergänzen sich ganz gut, aber das Krafttraining ist eine Voraussetzung für vernünftiges Ausdauertraining.

Das Be- und Entlasten im Gehen der Gelenke ist somit ebenfalls eine Gesunderhaltungsmaßnahme für den Knorpel.

Ihr Wunsch: Wie sollte das Thema Bewegung in den nächsten fünf Jahren bestenfalls in der gesellschaftlichen Wahrnehmung behandelt werden?

Ich muss noch einmal eine Geschichte erzählen: Im britischen Bristol hat man festgestellt, dass die nicht-alkoholische Fettleber ein medizinisches Problem darstellt, da etwa 20 Prozent der jungen Erwachsenen daran leiden. Darüber wurde im deutschen Ärzteblatt berichtet mit der Randnotiz, es gäbe noch kein Medikament, um diese Erkrankung zu behandeln, aber man arbeite daran. Darüber habe ich mich tierisch geärgert. Denn: Die beste Maßnahme gegen eine durch Bewegungsmangel bedingte, nicht-alkoholische Fettleber ist die Bewegung.

Da braucht man keine wissenschaftlichen Forschungen dazu. Um so etwas zu behandeln, braucht man Aufrufe und ein Bewusstsein dafür, dass diese jungen Erwachsenen sich bitte bewegen mögen. In Vorträgen formuliere ich das gerne so: Ich hätte die Betroffenen zu Fuß von Bristol nach Glasgow geschickt, dann wäre die Hälfte gesund gewesen – und die andere Hälfte hätte ich zu Fuß wieder zurückgeschickt.

Es gibt ganz einfache Möglichkeiten, wir müssen es nicht immer alles so kompliziert machen und sehen. Ich würde mir also wünschen, dass in den gesunderhaltenden Bereichen das Bewusstsein für die Relevanz von Bewegung viel ausgeprägter wäre, dass Krankenkassen mehr Möglichkeiten dazu fördern, sich durch Bewegung gesund zu erhalten.

Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass sich lediglich 15 Prozent der deutschen Bevölkerung ausreichend bewegt – der Rest schreitet kontinuierlich auf größere medizinische Probleme zu.

Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass sich lediglich 15 Prozent der deutschen Bevölkerung ausreichend bewegt – der Rest schreitet kontinuierlich auf größere medizinische Probleme zu. Dazu vielleicht abschließend noch ein Bezug zur Pandemie: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Politiker öffentlich aufgerufen hätte „Leute, bewegt euch – sonst ist das Risiko eines schweren Verlaufs viel höher!“. Amerikanische Studien haben das auch belegt, nämlich dass 77 Prozent der Betroffenen mit schweren Verläufen übergewichtig sind. Aber auch in Deutschland sind die Leute übergewichtiger geworden – aufgrund von Darstellungsfehler, Motivationsdefiziten und fehlendem Bewusstsein dafür. Ich würde mir wünschen, dass sich das ändert.


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